Der Himmel auf Erden
Im Seniorenzentrum St. Gerhardus in Drolshagen haben sie einen magischen Ort geschaffen. Im Zentrum des Sinnesgartens befindet sich eine große Wasserfläche. Für die Menschen hier: eine Oase.
Konzeptionell gibt es übrigens noch einen Kniff am Sinnesgarten, und es ist der vielleicht wichtigste. Denn die kleine parkähnliche Anlage ist für alle Menschen offen und zugänglich. Er ist Außenanlage des Seniorenzentrums und Bürgerpark in einem. Hierher kommen die Menschen aus Drolshagen nach Feierabend und genießen die Sonne auf einer Parkbank. Andere setzen sich mit einem Buch ans Wasser oder statten mit ihren Kindern der Vogelvoliere einen Besuch ab. Das Spannende ist: Diese natürliche Durchmischung macht den Sinnesgarten zu einem lebendigen Ort. Die Seniorinnen und Senioren sind nicht abgeschnitten von der Außenwelt. Sie sind mittendrin. Und das spüren sie auch. Kerstin Struwe bestätigt den Eindruck und geht sogar einen Schritt weiter: »Dieser Ort gehört allen Menschen. Ich weiß, dass auch viele Mitarbeiter der Einrichtung selbst hierherkommen, um einmal durchzuatmen und Kraft zu tanken. Aber auch viele Angehörige zieht es hierher. Für viele von ihnen gibt es viele schwierige Situationen, etwa, wenn sich ein Gesundheitszustand verschlechtert. Aber auch hier spendet dieser Ort Trost, Kraft und einen Moment der Ruhe.« Treffender kann man es nicht beschreiben. Die einen sagen, der Sinnesgarten in Drolshagen ist ein Best-of der Natur im Kleinformat. Andere sagen, er ist ein himmlischer Ort. Nur eben auf Erden. Im schönen Sauerland.
Das Seniorenzentrum gehört zur Gemeinnützigen Gesellschaft der Franziskanerinnen zu Olpe. Christliche Elemente prägen auch den Sinnesgarten.
Der Sinnesgarten ist ein Ort der Vielfalt. Es gibt Obstbäume, einen kleinen Kräutergarten, saisonale Blumenbeete duften um die Wette. Wenn der Wind durch die hohen Bäume fährt, entsteht ein angenehmes Rauschen. Ziel ist es, die Sinne zu stimulieren. Den Erfahrungsspeicher der Menschen am Laufen zu halten. Hierfür gibt es im gesamten Garten verschiedene Stationen. Ja sogar Outdoor-Sportgeräte, an denen die Betreuten etwa Pedale und Kurbeln betätigen und etwas für die eigene Fitness tun können. Das Highlight für viele sind aber die Strandkörbe direkt am Wasser, die diesem Bereich des Gartens ein maritimes Flair verleihen. Das kommt bei den älteren Damen und Herren gut an. Vor allem aber weckt es die Erinnerung an frühere Urlaube an der Nord- oder Ostsee. Für die Arbeit von Kerstin Struwe ist dieser emotionale Impuls besonders wichtig: »Natürlich erleben die Menschen, die hier leben, im Alter Krisen. Das ist völlig normal. Ich gehe mit vielen von ihnen in den Garten, ans Wasser, und suche das Gespräch. Ich habe den Eindruck, dass sich die Menschen hier draußen öffnen, das eigene Leben reflektieren und in Einklang mit sich kommen. Und das ist unser Wunsch: den Menschen an ihrem Lebensabend, hier bei uns auf ihrer letzten Lebensstation, ein Gefühl der Ruhe und Zufriedenheit zu vermitteln. Und dabei hilft uns der Sinnesgarten jeden Tag ungemein.«
Das Thema, das Kerstin Struwe anspricht, passt an diesen Ort. 1895, also vor 126 Jahren, hat sich an dieser Stelle der Konvent der Franziskanerinnen niedergelassen. Das ursprüngliche Gründergebäude mit seiner Kapelle existiert bis heute. Und aus dem Klostergarten wurde der Sinnesgarten. Die Anlage selbst hat eine bewegte Geschichte. Sie wurde u.a. als Obdachlosen- und später als Kinderheim benutzt, ehe sie zu einem Krankenhaus und schließlich zu einer Senioreneinrichtung umfunktioniert wurde, welche stetig um Gebäudeteile erweitert wurde. Heute ist das Haus der Ruhesitz von 25 Ordensschwestern. Sie prägen das Bild des Seniorenzentrums und verleihen dem Ort eine spirituelle Aura. Noch wichtiger aber ist die lange Tradition der Hilfe für bedürftige Menschen – dem Leitgedanken der Einrichtung.
Auch beim Besuch kann man sich der Kraft dieses Ortes, den sie hier »den Sinnesgarten« nennen, nicht entziehen. Kein Wunder: Die Natur ist ein Gegenentwurf zu unserem Alltag, der häufig bestimmt ist von Technologie, Informationsflut, Stress und den Begleiterscheinungen einer urbanisierten Umwelt. Wer dem Verkehr und den Betonwüsten entkommen will, den zieht es hinaus ins Grün. Und macht dabei eine wichtige Erfahrung: sich selbst spüren. In sich hineinhorchen. Fokussieren. Für Menschen, die mitten im Leben stehen, ist die Flucht in die Natur ein Leichtes. Aber was ist mit den Seniorinnen und Senioren, die im Alter in ihrer Mobilität eingeschränkt sind? Und die häufig über Isolation und Verlust von Lebensqualität klagen? Bietet das Konzept des Sinnesgartens eine Lösung? Die Mitarbeiterin, die eben noch eine Bewohnerin zum Spaziergang ausgeführt hat, ist Kerstin Struwe. Sie leitet den Sozialen Dienst der Einrichtung und versucht sich an einer Antwort. Sie ist nah dran an den Bedürfnissen der betagten Menschen. »Dieser Abschnitt des Lebens geht wohl immer mit gewissen Beeinträchtigungen einher. Wir wollen einen Ort schaffen, an dem es sich gut leben lässt. Und unser Park mit seinem großen Gewässer trägt maßgeblich dazu bei, das Wohlbefinden der Menschen zu steigern.« Was so einfach klingt, ist ein wohldurchdachtes Konzept. Auf der einen Seite strahlt der Sinnesgarten etwas Offenes, Weites aus. Dazu tragen auch die umliegenden Gebirgszüge bei, die diese Region prägen. Auf der anderen Seite bieten hohe Hecken neben ihrer Funktion als natürliche Begrenzung ein Gefühl von Schutz und Geborgenheit. Der Sinnesgarten als Minikosmos. »Die Wege im Park«, erzählt Kerstin Struwe, »sind so angelegt, dass die Seniorinnen und Senioren ihre Kreise ziehen können. Am Ende führen alle Wege immer hier am Wasser zusammen.« Und was macht den Park noch so besonders? Die Mitarbeiterin muss nicht lange überlegen: »Für die meisten unserer Bewohner gilt: Der Sinnesgarten und vor allem das Wasser haben eine magische Anziehungskraft. Jeder nutzt diesen Ort ganz individuell. Es gibt die einen, die einen Platz suchen, um mit sich alleine zu sein und um die Ruhe zu genießen. Und es gibt die anderen, für die der Park ein sozialer Treffpunkt ist. Unser Ziel ist damit erreicht. Wir bringen die Menschen in Bewegung. Körperlich und geistig.«
Drolshagen im südwestlichen Sauerland. Rund 12.000 Menschen leben in der Stadt im Kreis Olpe. Sie ist wohl das, was man ein verschlafenes Städtchen nennt. Nah am Ortskern der Stadt gelegen, befindet sich das Seniorenzentrum St. Gerhardus. Ein großer weißer Gebäudekomplex. Der erste Eindruck: unscheinbar. Doch schon am Eingang fällt der Blick auf eine große Wasserfläche und einen dahinter liegenden Park. Die Sonnenstrahlen reflektieren auf dem Wasser. Es wirkt, als würden hunderte kleine Kristalle um die Wette funkeln. Tritt man hinaus ins Freie, steht man plötzlich inmitten einer grünen Oase. Ein älterer Herr mit einem Gehstock steht am Wasser und geht seinen Gedanken nach. Zwei Ordensschwestern sitzen in einem der Strandkörbe und sonnen sich. Eine Angestellte des Hauses geht mit einer Bewohnerin eine Runde durch den Garten. Sie bleiben am Wasser stehen und werfen einen Stein hinein, beobachten, wie er langsam zum Grund sinkt. Dieser Ort strahlt eine bemerkenswerte Ruhe aus. Das liegt vor allem am Wasser. Aber warum?